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Industriepolitik – Wer braucht denn sowas?

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Anfang Februar legte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) einen kurzen Text mit dem gewichtigen Titel Nationale Industriestrategie 2030 vor, mit dem er eine Debatte um künftige Schlüsseltechnologien und die Entwicklung industrieller Kernbereiche in Deutschland (u.a. Metall-Herstellung/Verarbeitung, Maschinen-und Anlagenbau, chemische Industrie, Automobilsektor und Medizintechnik) anstoßen wollte. Im Papier des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) geht es also um die produktive Basis der Volkswirtschaft, deren Zustand und Zukunft. Angelehnt an die vor vier Jahren präsentierte Industriestrategie Made in China 2025 prangt auf dem BMWi-Deckblatt ein graues „Made in Germany“ Label. Gepasst hätte auch „Germany First“. Aber ein solch kontrastierender Bezug auf die US-Doktrin wäre politisch nicht korrekt gewesen.

Veränderte Welten – ohne Strategie und Ziel undenkbar

Mit China und den USA sind die Impulsgeber für Altmaiers Ideensammlung und die Leitplanken seiner Strategie benannt. Aber nicht allein sein Denken wird von den zugehörigen Narrativen des globalen Konkurrenzkampfs bestimmt, die im Text als „Herausforderungen“ umschrieben werden. Viele Entscheider in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft treibt die Sorge um, zwischen dem aggressiven Auftritt der US-Administration unter Trump und den industriepolitischen Entwicklungen Chinas technologisch wie wirtschaftlich abgehängt zu werden. Ergänzt werden die Herausforderungen im weiteren Text von zwei Kernbegriffen (Basisinnovationen und Innovationstempo), die als „Game-Changer“ gelten. Heruntergebrochen auf die industriepolitische Argumentation werden Aspekte möglicher tektonischer Änderungen und Brüche abgehandelt, die seit Jahren diskutiert werden – soweit der beschreibende Teil des Altmaier Papiers.

Der globale Konkurrenzkampf zwischen den Blöcken lässt viele Akteure oft staunend, fassungslos und konsterniert zurück. Öffentlich wird abwechselnd bewundernd oder böswillig lamentiert, niemand würde sich mehr an die „guten“ Regeln der Globalisierung halten. Nun sind aber die Regeln internationaler Produktion und des Handels mit Waren, Gütern, Dienstleistungen und Kapital nie vom Himmel gefallen. Sie werden immer politisch konstruiert, sind formbar und flexibel. Die Regeln der neoliberalen Globalisierung seit den 1980er Jahren galten auch nicht für alle Volkswirtschaften gleichermaßen und nie profitierten alle. Selbst in den Gewinnernationen wuchs die Ungleichheit rapide und mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 haben sich alte Probleme noch verstärkt, neue sind hinzugekommen.

Seither überzeugt die neoliberale Story zwar immer weniger, bleibt mangels alternativer Erzählung und fehlender politischer Subjekte mit Macht- und Gestaltungsperspektive aber bestimmend. Sie wird heute weniger im liberalen Slang vorgetragen, vielmehr autoritärer, populistisch formuliert und machtpolitisch umgesetzt. Bisweilen wird dies als bloße Rückkehr eines vermeintlich überkommenen ökonomischen Nationalismus verstanden und stark personalisiert. Eine Fehlinterpretation, die einerseits aus dem unzureichenden Verständnis des Neoliberalismus und dessen Flexibilität resultiert. Andererseits auf vereinfachten Betrachtungen ruht, die den Widerspruch zur „schönen“ Rhetorik von Freihandel, Liberalisierung, Flexibilisierung und Deregulierung überhöhen. Völlig ausgeblendet wird meist ein zentrale Ergebnis: die Erosion ökonomischer, sozialer, politischer und institutioneller Pfeiler, die Basis der Innovationsfähigkeit der Nachkriegsgesellschaften und des Auf-/Ausbaus industrieller Schlüsselbranchen.

Wer ernsthaft über eine Industriestrategie diskutieren will, Basisinnovationen umschreibt und technologische Umsetzungen anmahnt, müsste deshalb zuerst die dafür notwendigen Bedingungen realistisch einschätzen. Darauf aufbauend wären qualitative Ziele zu formulieren, für die es Innovationen braucht und die Instrumente zu nennen. Hier liegt der erste Kardinalfehler des Altmaier-Textes: Diese Einschätzung fehlt völlig! 

Es bleibt deshalb bei der voraussetzungslosen Reihung aktuell „hipper“ Begriffe (Digitalisierung, Künstliche Intelligenz/KI, Industrie und Arbeit 4.0, autonomes Fahren, Plattform-Ökonomie). Nach der Sinnhaftigkeit bestimmter Technologien und deren Zwecke wird nicht gefragt, was in einem Regierungsdokument noch verständlich ist. Unverständlich ist aber, die finanziellen, institutionellen und strukturellen Bedingungen gar nicht mitzudenken, die für jede Entwicklung von Schlüsseltechnologien und Transformation entscheidend bleiben. Es geht eben nicht um die Unternehmensgröße oder Eigentumsform und deshalb helfen weder „schöne“ Worte zur Innovationskraft und Leistungsfähigkeit klein- und mittelständischer Betriebe, die nie losgelöst von den industriellen Kernbereichen und Konzernen zu verstehen sind, ohne die sie gar nicht existieren würden. Auch sind globale Champions nicht Innovationstreiber per se.

Die „neuen“ Technologien sind erst in enger Kooperation von öffentlicher und privater Hand entwickelt worden. Weder sind die Soft-/Hardware- und Internet-Giganten durch pfiffige Nerds entstanden, noch wird die existentielle Infrastruktur (Netze, Server- und Übertragungstechnologie, Energieversorgung) für die „Game-Changer“ flächendeckend ausgebaut und modernisiert von privaten Unternehmen oder Start Ups. Am Ende allen Räsonierens über Innovationen, Schlüsseltechnologien und industriellen Kernen braucht es sehr hohe Finanzmittel, personelle Ressourcen und ein planvolles Handeln der öffentlichen Hand sprich einer aktiven Politik. Ein Blick in die Vergangenheit klärt auf: Alle industriellen Kernbereiche der OECD-Nationen sind im Zuge der klassischen Industrialisierung nicht durch den Appel an Unternehmergeist, über Markt und Wettbewerb entstanden. Exemplarisch zeigt dies die Entwicklung der Energieerzeugung (Kohle, Gas, Atom) mit den Übertragungsnetzen zur flächendeckenden Elektrifizierung. Die Herstellung und Verarbeitung von Metall (in Europa nach dem Krieg flankiert durch die Montanunion), den Aufbau der Luft-/Raumfahrttechnik, der Automobilproduktion mit der zugehörigen Infrastruktur zur Massenmotorisierung (Verkehrs-/Städteplanung) oder die subventionierte, protegierte Agrarindustrie mit der chemisch-pharmazeutische Grundstoffindustrie. Die nachholende Industrialisierung in den erfolgreichen Schwellenländern im 20. Jahrhundert wurde vergleichbar aktiv politisch angegangen.

Angesichts aller historischen und ökonomischen Erfahrungen ist es unwahrscheinlich, dass Schlüsseltechnologien und industrielle Kerne im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts anders entstünden. Vor allem dann nicht, wenn Basisinnovationen durchgesetzt werden sollen, die bestehende Unternehmen und weite Teile des über Dekaden kumulierten Kapitalstocks entwerten bzw. verdrängen werden (Disruption und Strukturbruch). Innovationen im gesellschaftlichen Maßstab brauchen also mehr denn je eine klare Strategie und aktive Politik.

Druck wächst – Angst steigt

Die Erosion der Grundbedingungen für Innovationen und technische Transformationen würde allein schon die Revision wirtschaftspolitischer Überzeugungen verlangen – und dies nicht allein in der Regierungskoalition. Denn sie war kein Betriebsunfall oder Zufall, vielmehr Ergebnis und Ziel des Neoliberalismus. Jenseits aller sozialen Folgen ging die absurde Konzentration von Vermögen und Einkommen mit langfristig sinkenden Investitionen einher. Erst der öffentlichen Hand, um den Wettbewerbsstaat zu erzwingen, der vom „Investitionsstreik“ des privaten Sektors ergänzt wurde.

DESTATIS: Wirtschaft und Statistik; S. 111

Zu geringe Investitionen in Relation zur Wirtschaftskraft und Lösung gesellschaftlicher Großprobleme haben unterschiedlich Effekte im Detail, jedoch gleiche Konsequenzen und Tendenzen: Die materielle (Infrastruktur) wie immaterielle Basis wird aufgezehrt, es kommt zum Substanzverlust. 

Laut offizieller Zahlen gibt es allein in Deutschland einen Investitionsrückstand der Gemeinden und Kommunen von etwa 160 Mrd. Euro. Bis zu 100 Mrd. Euro werden für eine flächendeckende digitale Infrastruktur benötigt, rund 50 Mrd. Euro um die Schieneninfrastruktur und Bahn zu sanieren. Für die übrige Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Brücken, Wasserwege) werden Finanzmittel in gleichen Größen benötigt. Hinzu kommen Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung, die städtebaulichen Anpassungen an den demographischen Wandel und zur Steigerung der Energieeffizienz (Zu-, Rück- und Umbau der Gebäude). 

Die privatwirtschaftlichen Investitionen sind seit Jahrzehnten viel zu gering und konzentrieren sich seit 2008 bei „billigem Geld“ sprich günstigen Kreditkonditionen und weiterhin hohen Gewinnen, Vermögen und Einkommen auf den Baubereich. Die positive Wertung marginaler Investitionszuwächse in den letzten Jahren ist angesichts der langfristigen Situation und der finanziellen Notwendigkeiten vollkommen unangebracht.

DESTATIS: Wirtschaft und Statistik; S. 98

Unter diesen Umständen konzentriert sich die technische Modernisierung auf die Anpassung der bestehenden Produktionsstruktur und dynamisiert Innovationen der Vernetzung, Anwendung und Steuerung. Hinzu kommt die Finanzialisierung, der Auf- und Ausbau des digitalen Zahlungsverkehrs und webbasierter Dienste für den Individualkonsum. Die langfristig sinkende Arbeits- und Kapitalproduktivität in allen Industrienationen konnte nicht gestoppt und umgekehrt werden. Es gilt weiter das Produktionsparadoxon. Den Thesen zur exorbitanten Innovationskraft des digitalen Kapitalismus, ähnlich populär in den Debatten um die New Economy der 2000er Jahre, fehlt jede belastbare empirische wie theoretische Grundlage.

Es organisiert sich vielmehr eine Plattformökonomie, die primär bestehende Angebots- und Vertriebswege zerlegt und in neue Unternehmensformen überführt. Neu ist allein, dass etwa Amazon, Ebay, Google, Air BnB, Uber und Co. noch weniger steuerlich zur Kasse gebeten werden als analoge Unternehmen und geltende Vorschriften (u.a. Datenschutz, Produktstandards, Marktzugangskriterien, Steuer-/Sozial- und Umweltrechte) im „Internet“ nicht durchgesetzt werden. Einerseits weil der effektive Gesetzesvollzug durch den anhaltenden Abbau öffentlicher Strukturen unmöglich ist, andererseits weil entsprechendes politisches Handeln nicht gewollt wird. 

Für den Industriestandort war die wachsende Diskrepanz zwischen privatem Reichtum, öffentlicher Armut und Investitionsschwäche nicht bedrohlich, so lange sich „deutsche“ Produkte und Dienstleistung global absetzen ließen. Kleinere Störungen konnten durch die Produktion an anderen Orten und flexible Wertschöpfungsketten abgefedert werden. Die Erfolge im Außenhandel bestätigten die Unternehmen und Politik trotz aller Kritik im In- und Ausland und es stieg stetig die Exportlastigkeit der Volkswirtschaft.

Nun werden die Karten neu gemischt, die bisherigen „Regeln“ der Globalisierung substanziell in Frage gestellt. Nicht so, dass es keinen Handel, keine Produktionsverlagerung oder Direktinvestition mehr gäbe. Es verändern sich aber die Kosten-/Gewinnrelationen der über Jahrzehnte aufgebauten Handels- und Produktionsstrukturen.Wenn etwa die aktuelle US-Administration alte Modalitäten ablehnt, massiv Druck aufbaut und neue „Deals“ aushandeln will. Wenn Europa seit 2008/09 wirtschaftlich stagniert, sich weiter polarisiert und sich mit dem möglichen Brexit ein Absatz- und Produktionsstandort aus dem Binnenmarkt löst. Wenn im Konflikt der US-Administration mit China generell das internationale Handels- und Machtgefüge neu bestimmt wird und vor allem, wenn China sich modernisiert. Durch den Anspruch der politischen Führung Chinas, als Land nicht nur verlängerte Werkbank und Müllhalde der Welt sein zu wollen.

Im nächsten Schritt sind richtungsweisende Schlüsselbranchen identifiziert worden, die es mit eigenem know howzu entwickeln gilt, um eine tiefgestaffelte industrielle Wertschöpfung mit zugehörigen Dienstleistungen in hoher Qualität vor Ort zu etablieren. Es geht bei Chinas schiere ökonomischen Größe und Rolle dann zwangsläufig um globale Konkurrenz also auch darum, wie und wo die industrielle Produktion künftig organisiert ist, welche Strukturen, Branchen und Unternehmen obsolet oder randständig werden.

Chinas Strategie ist ökonomisch und sozial logisch, soll der Status eines Schwellenlandes verlassen werden. Es sind vor allem die großen Unterschiede zwischen dynamischen Industriezentren und regionaler Rückständigkeit im Land abzubauen, der ökonomische Wildwuchs ist einzuhegen und so soll das fragile Wirtschaftssystem stabilisiert werden.

Die angestrebte industriepolitische Transformation Chinas wird technologisch begleitet durch ähnliche globale Entwicklungen u.a. im Automobilsektor, Maschinen- und Anlagebau, der Robotik, im Energiesektor, was vergleichbare Anstrengungen in allen Industrienationen zur Folge hat.

http://www.euro-bc.com/marktpotezial

Die Digitalisierung bestimmen zudem Unternehmen und Innovationstreiber, die nicht in Europa/Deutschland beheimatet sind und den Entwicklungstakt vorgeben. Primär US-amerikanische Konzerne und Technologieführer bei Soft- und Hardware. Hinzu kommt deren Dominanz in der Chiptechnik, cloudbasierter Servertechnik, bei den Super-Computern und Rechnerkapazitäten, die außerhalb Europas angesiedelt bzw. zur Marktreife gebracht wurden. Dass deutsche/europäische Google, Amazon, Facebook und Co. fehlen hat keine wettbewerbspolitische Ursache. Es fehlen hier die technologischen Voraussetzungen und alternative Forschungs- und Produktionskapazitäten sind nie signifikant aufgebaut worden.

Die industrielle Schwerpunktsetzung in China hat im Unterschied eigene technologische Grundlagen massiv gefördert und entwickelt, wobei nicht absehbar ist, ob diese partielle Eigenständigkeit zur technologischen Führerschaft ausgebaut werden kann. Die harten Konflikte (u.a. Huawei, Qualcomm) um Zugriff und Einsatz von Chiptechnologie, IuK-Technik und Datenverarbeitung der digitalen Konkurrenten USA und China ist noch nicht entschieden. Europa spielt hier aber nur noch eine nachgeordnete Rolle.

Chinas Industriestrategie zielt nun genau auf die Bereiche, in denen deutsche Unternehmen direkt und/oder indirekt als Anbieter und Zulieferer von Komponenten auf den globalen Märkten präsent sind. Es sind die Produktlinien und Dienstleistungen, die bislang hoch nachgefragt werden. China wird bei Erfolg vom Kunden zum harten Konkurrenten über Konsum- und Vorprodukte hinaus in High Tech Segmenten und bei Investitionsgütern.

Die deutsche Industrie und Politik geraten also nicht aus Einsicht oder aufgrund eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels unter Druck. Sie werden technologisch und  von außen massiv unter Zugzwang gesetzt.

Am Vorabend einer Agenda 2030

Angesichts der skizzierten Entwicklungen macht es Sinn, wenn der Wirtschaftsminister der größten Volkswirtschaft Europas über eine Industriestrategie nachdenken lässt. Altmaiers Beitrag bleibt leider in Stereotypen gefangen und wärmt schon im Vorwort die Meta-Erzählung der Nachkriegszeit auf: „Ermöglicht wurde unser hohes Maß an Wohlstand durch die Soziale Marktwirtschaft. Sie hat sich als weltweit erfolgreichstes Wirtschaftsmodell durchgesetzt. Sie war und ist jeder Form von Planwirtschaft überlegen. Vor 40 Jahren wurden sogar in China Elemente von Marktwirtschaft eingeführt. Seit dem Ende des Kalten Krieges erlebt die Marktwirtschaft einen weltweiten Siegeszug.“Ein Siegeszug erlebte auch bei uns der industrielle Kapitalismus, der dann als Soziale Marktwirtschaft etikettiert wird. Die theoretischen wie praktischen Unzulänglichkeiten dieser genuin deutschen neoliberalen Variante werden negiert, dessen konkreter Gehalt für die reale sozio-ökonomische Entwicklung in Deutschland wird stark überhöht.

Aus der ideologischen Zwangsjacke können sich die offiziellen wirtschaftspolitischen Debatten nicht befreien und so erklärt sich dann die Stoßrichtung der Altmaierschen Überlegung: Orientierungspunktist für ihn die „Verteidigung der technologischen und industriellen Souveränität“, um international weiter oder wieder an der Spitze zu stehen. Dazu bedarf es einer industriellen Bruttowertschöpfung von 25 Prozent (aktuell ca. 23 Prozent), des Erhalts geschlossener Wertschöpfungsketten, technologischer Aufholprozesse und eines starken Mittelstandes. Hinzu kommen „Globale Champions“, die es besser zu fördern gilt, um mit internationalen Konzernen mithalten zu können. Übernahmen deutscher/europäischer Unternehmen sind bei Bedarf zu ver-/behindern. Zugleich sind ganz neue Großeinheiten zu schmieden unter Einsatz öffentlicher Mittel  (u.a. Beteiligungsfonds, Kredite, Subventionen) und das Wettbewerbs- und Beihilferecht ist zu reformieren. Beispielhaft werden die Bahntechnik, E-Mobilität (Zell- und Batterieproduktion) und Künstliche Intelligenz (KI-Airbus) genannt.

Die wenigen Stichpunkte werden durch ordnungspolitische Prinzipienergänzt. Ohne den Begriff Ordnungspolitik wäre Altmaiers Text vollends dem Ruf ausgesetzt gewesen, er wolle Planwirtschaft in Reinform. Gepocht wird auf den letzten Seiten des BMWi-Papiers auf mehr Wettbewerbsfähigkeit und gute Rahmenbedingungen. Selbstverständlich dürfe der Staat „zu keinem Zeitpunkt in betriebswirtschaftliche Entscheidungen einzelner Unternehmen eingreifen“, positiv bekannt wird sich zum Freihandel, Multilateralismus und aktiven Handeln gegen starke Wettbewerbsverzerrungen anderer Länder – gemeint ist China. So prosaisch die Stoßrichtung der Industriestrategie 2030des BMWi ist und sich in Allgemeinplätzen und Wünschen ergeht, so klar werden drei Handlungsfelder benannt: Strom- und Energiekosten, Unternehmensbesteuerung, Sozialabgabenquote (dauerhaft unter 40 Prozent zu garantieren).

Wie bei nahezu jeder offiziellen Positionierung schnurrt bei der „Industriestrategie“ die konkrete Umsetzung auf die Verbesserung „schlechter“ Angebotsbedingungen für Unternehmen zusammen. Waren es bei der Agenda 2010 allein die zu hohen Lohnkosten und Sozialabgaben, sind es rund zwanzig Jahre später die Energiekosten und die hohe Steuerlast der Unternehmen. Beides ist in der Pauschalität falsch und nicht ursächlich für den erwähnten Investitionsstreik und die mangelnde Innovationsfähigkeit. Die Lagebeschreibung erklärt aber, wie die Industriestrategie politisch letztlich durchbuchstabiert würde: Erstens in sinkende Unternehmens- und Gewinnsteuern, um Investitionen und Innovationen zu fördern – was die letzten Dekaden schon nicht funktionierte. Zweitensin Subventionen des industriellen Energieverbrauchs und Maßnahmen, um die Kosten der Energiewende weiter zu sozialisieren. Drittensin normativ Beitragssätze der Sozialversicherung, so dass hohe Einkommen/Vermögen und Gewinne nicht stärker zur Finanzierung herangezogen werden.

Die tatsächliche Substanz der Industriestrategie von Altmaier steht im Gegensatz zur harschen Kritik und Ablehnungen aus der eigenen Partei, in vielen Medien, bei Beratungsgremien wie dem Sachverständigenrat (Wirtschaftsweise) oder von Unternehmens- und Verbandsvertretern. Exemplarisch dafür stehen die grotesken Einlassungen des Präsidenten der Familienunternehmen, der im liberalen Tremolo vom Kulturbruch fabuliert, mehr Wettbewerb anmahnt und von überbordenden Lasten und Eingriffen des Staates warnt. Er spricht für so illustre Familienunternehmen wie VW (Piech/Porsche), BMW (Quandt/Klatten), Bertelsmann (Mohn) und Co. Allesamt global bestens aufgestellte Unternehmen, deren Eigentumsform (über 90 Prozent der deutschen Unternehmen sind im Familienbesitz) nichts über die reale Steuerbelastung, Umsätze und Gewinne oder überbordende Regulierungen aussagt.

Neben dem, dass die Voraussetzungen für ökonomische, technologische Entwicklung und Innovationsfähigkeit jeder Gesellschaft nicht angesprochen werden, verweist diese konkrete Zielrichtung auf den zweiten KardinalfehlerDer Industriestrategie fehlt der intellektuelle wie politische Überbau! Weder in der Wirtschaftswissenschaft, den Medien noch den politischen Organisationen (Beratungsgremien, Parteien, Bürokratie, Verwaltung, Gewerkschaften) sind ausreichend starke Akteure zu finden, mit denen die notwendige Revision u.a. in Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Bildungs-, Struktur-, und Industriepolitik  durch- und umgesetzt werden könnte.

Die so genannten Entscheider/Eliten stecken damit in einem Dilemma. Am liebsten würde man weiter von der guten, freien Entfaltung der Marktkräfte, des Wettbewerbs und von Leitplanken (Ordnungspolitik) reden. Da sich entscheidende technologische Parameter ändern und große ökonomische Player anders auftreten, reicht dies nicht mehr. Der notwendige Paradigmen- und Politikwechsel wird aber behindert, denn es sind genau diese Phrasen, mit der die Abstinenz von aktiver Wirtschafts-, Struktur- und Industriepolitik immer wieder legitimiert und in den Köpfen verankert wird.

Ohne progressive Ziele in die Standort-Sackgasse

Hiermit verbunden ist der dritte Kardinalfehler der Industriestrategie 2030: Sie hat keine progressiven Ziele! Sie folgt nur einer simplen Zweck-Mittel Rationalität. Es geht allein um die Sicherung von Weltmarktanteilen, industrieller Wertschöpfung und Spitzenpositionen deutscher Unternehmen. Folglich wird nicht nach Sinnhaftigkeit und Einsatzmöglichkeit von Technologien gefragt. Es ist deshalb unerheblich, was und wie sich über technologische Entwicklungen und deren Einsatz im industriellen Maßstab die gesellschaftliche, ökonomische wie ökologische Situation ändert.

Angesichts der sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme ist dies mehr als nur nachlässig. Altmaiers Ideensammlung als Strategie zu bezeichnen wird genau deshalb auch der Wortbedeutung nicht gerecht, wenn darunter eine fundierte Analyse und ein abgeleitetes planvolles Vorgehen verstanden wird, um definierte Ziele zu erreichen. Man kann etwa die chinesische Industriestrategie aus vielen guten Gründen kritisieren und ablehnen. Aber zumindest werden damit gesellschaftliche Ziele verfolgt, um Probleme (u.a. Energieversorgung, Mobilität, Ressourceneinsatz) vor Ort anzugehen. 

Eine deutsche/europäische Industriestrategie hätte Großprobleme adressieren und dann benötigte technologische Möglichkeiten und Transformationspfade skizzieren müssen. Es ist etwa unbestritten, dass der hohe Energie-und Ressourceneinsatz, der Verbrauch gekoppelt an das Emission/Immission- und Abfallproblem verändert werden muss. Es braucht auch eine Verkehrs- und Mobilitätswende. Substanziell einzudämmen ist etwa der straßengebundene Transport-/Logistikverkehr, der durch die industrielle Produktionsweise und den Onlinehandel steigt. Der ungesteuerte Einsatz digitaler Technik wird die Optimierung ohne signifikanten Rückgang von Energieverbrauch und Ressourceneinsatz forcieren. Die Energiewende mit zugehörigen Übertragungs- und Verteilnetzen sowie Speicherkapazitäten steht am Anfang. Es geht um smarte Netze und smarte Citys, in denen die Stadt- und Verkehrsplanung neu ausgerichtet werden muss. Es geht um Rück-, Um- und Aufbau, die Anbindung ländlicher Räume und den Aufbau wie Zugang zu einer modernen digitalen Infrastruktur.

Die Liste der Transformationsfelder ließe sich ohne Aufwand erweitern. Der Regierung und Öffentlichkeit sind diese „Herausforderungen“ bekannt und werden in unzähligen Strategiepapieren, Studien, Absichtserklärungen usw. detailliert aufgeschlüsselt. Der Umbau der Industrie in Deutschland wie Europa ist überfällig, wofür technologische Mittel im Großmaßstab zu nutzen sind. Denn allein durch veränderte individuelle Konsummuster werden die bestehenden strukturellen Probleme nicht gelöst. Dafür wären aber klare Ziele zu definieren und, darauf abgestellt, Forschung, Entwicklung sowie der Einsatz von Technologien zu fördern bzw. zu steuern. Es geht um aktive politische Entscheidungen, den Einsatz öffentlicher Gelder, Kredite und Subventionen und abgestimmte Gesetze und Verordnungen, die effektiv überprüft werden müssen.

Alles dies setzt jedoch ein strategisches Verständnis von Politik und rationale Debatte über den Sinn und Zweck wirtschaftlichen Handelns voraus. Seit Jahrzehnten gibt es offiziell aber eine solche Debatte nicht. Stattdessen werden einzelwirtschaftliche Bewertungen mit gesamtwirtschaftlicher Analyse verwechselt. Bezugspunkt von „Wirtschaft“ ist meist das Unternehmen. Bestenfalls noch einzelne Wirtschaftssubjekte wie Verbraucher, Kunden, Konsument, Dienstleister. Ein Strauß individueller Interessen scheint wundersam im großen Ganzen verbunden zu sein und bei solch simpler Sicht bleibt „Politik“ immer nur Rest- und Störgröße. Restgröße, um Einzelwünsche moderierend auszugleichen und den „Marktkräften“ sonst den von ihnen gewünschten ordnungspolitischen Rahmen geräuschlos, kostengünstig und unbürokratisch zur Verfügung zu stellen. Ähnliches gilt übertragen für das Verständnis von Technologie und Innovationen, die sich scheinbar zum Nutzen aller möglichst „ungestört“ durchsetzt und so einem höheren Ziel folge – Fortschritt und Wohlstand. 

Altmaiers Text verweist (unbewusst) auf die intellektuellen wie politischen Leerstellen dieser Sicht und belegt, warum es keine wirklich überzeugende Industriestrategie oder progressive Debatte gibt: Erstensfehlt das Verständnis für die Voraussetzung von technologischen Innovationen im gesellschaftlichen Maßstab. Es gibt auch keine Bereitschaft, die dafür dringend notwendigen Investitionen (öffentlich wie privat) in mehrstelliger Milliardenhöhe bereitzustellen. Zweitensgibt es die personellen, institutionellen Träger nicht, die über die voraussetzungslose Förderung gehypter Technologien, Branchen und Unternehmen hinausgeht. Womit sich drittensder appellative Charakter des Textes erklärt, mit denen Innovationen eingefordert werden.

Wie, wofür, womit und warum gehandelt werden soll bleibt banal: Man will nicht ins Hintertreffen geraten bzw. den Abstand zu den USA und China verringern. Nach simpler Handlungslogik braucht es dafür mehr, schnellere Innovationen und globale Champions. D.h. große Unternehmen und Konzerne, die mit US-amerikanischen und asiatischen Internetgiganten und Konglomeraten mithalten können.  Wer qualitativ etwas anderes will oder mehr erwartet, wird in diesem „Strategiepapier“ leider nicht fündig.


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